ULTIMO 1996 – WING (Ueding)
Er fälscht Briefmarken – und lehrt an der Fachhochschule ABC-Geschichte: Gereon Inger, moderner Miniaturenmaler, altmodischer Typograf
Natürlich fälscht Gereon Inger keine Briefmarken. Sondern Geldscheine. Mit Gummistempeln. Und mit der ausdrücklichen Genehmigung der Bundesbank. Wenn nur alles Unikate würden, und Kunst, dann dürfe er in seinem kleinen „Stempel Tempel“ sogar sämtliche Geldscheinmotive als Abdruckvorlage zum freien Kombinieren anbieten. Und es gehört mit zu Gereon Ingers Kunst, gleich neben dem Genehmigungsschreiben seinen liebsten Stempel im Versandhandelskatalog zu haben – Motiv: „und warum?“.
Natürlich sind Gereon Ingers Briefmarken echt. Man kann sie nur nicht auf Briefe kleben. Denn das Papier (im selbstentwickelten Kunst-Format, etwas länger als A 4) ist zwar gummiert, aber die Marken darauf (ein Block mit bunten mehrfach überdruckten Bildchen aus Kunstgeschichte und Welt) haben nur eine vorgetäuschte Stanz-Perforation. Und keinen aufgedruckten Wert. Aber die ganze Edition wird auf dem Kunst-Markt langsam steigend gehandelt.
Natürlich fälscht Gereon Inger kein Geld. Warum auch? Denn inzwischen hat er nicht nur ein Markenzeichen, eine Handschrift, einen Galeristen und Kunst-Aufträge sondern auch einen Lehrauftrag an der Fachhochschule. Über Schriftgeschichte. Und ist um die Erfahrung reicher, daß „freie Künstler“ mit betont handwerklichen Veranstaltungen bei einigen extrem gestaltungswilligen Studenten Ärger kriegen. Ingers ironisch konservative Plakate jedenfalls fielen einer Art ästhetischen Guerilla zum Opfer, die sich wohl von den strengen, wie von Mönchen geschriebenen Text-Bildern ernsthaft beeinträchtigt fühlte.
Das ist nicht unkomisch, weil Ingers Arbeitsweise Lüge von beiden Seiten hat, von Regelbruch und Renaissance, von Metaphysik und Materialismus, Tradition und Techno … Techno besonders. Inger lernte Kunst in Düsseldorf, und fand dort einerseits die großen Maler der Gegenwart, um sich von ihnen abzusetzen – auch im Format – und andererseits die Szene mit dem Soundtrack zur Grenzüberschreitung. Nicht scheinbar authentische IndianerTrommeln treiben ihn zur ArbeitsTrance, sondern der ebenso ernsthafte wie spielerische Mix aus Litanei-Struktur, Quellen-Sampling und modernen Mantras.
Ganz wie im Werk selbst auch. Tradition müsse sein, ohne Homer etwa bleibe der Humor flach, aber schwere Bildungskunst sei ohne Ironie auch kaum zu ertragen. Und ohne die Aufmerksamkeit für das Detail sei ohnehin alles eitel. Und bestenfalls Kunstgewerbe. Womit Inger – ironisch – eine Gegenposition bezieht, zu dem alten Ästheten-Witz über überausgefuchste Techniker, die könnten ja gleich Kirschkerne bemalen. Gehört, getan. Gereon Inger studierte Kunst bei dem VideoArt-Papst Nam June Paik und drehte nie ein Video – aber fing an, Kirschkerne zu bemalen. Besser: zu beschreiben. Mit dem „Vater Unser“ in mehreren Dutzend Sprachen und für – 64 Pfennig pro Buchstabe. Knapp 200 von diesen Originalen sind bislang in der Welt, ein paar gingen als Geschenke zur Erstkommunion von eher unkomischen Katholiken weg, ein paar schafften es schon bis nach New York in richtige Galerien … der „Kirschkern-Inger“ beginnt, eine Handelsmarke zu werden. Und will demnächst mal die Buchstaben-Preise etwas nach oben korrigieren.
Während er die Buchstabengrößen weiter herunterfährt. Nach eineinhalb Jahren meditativer Heimarbeit an einer Abschrift des gesamten „Ulysses“ von James Joyce – in Form der Bucht von Dublin – kann Inger immer kleiner schreiben. Und setzt prompt Dickenveränderungen im Schriftbild für eine weitere Ebene im Kunstwerk ein: Strömungslinien entstehen, Wasserwirbel … alles in meeresphysikalisch abgesicherten Strudelweisen. Überhaupt steckt bei Inger hinter fast jedem Pinselstrich eine Menge Recherche. Denn das, findet er, unterscheide ja zum Beispiel richtige Kunst von der willkürlichen Gestaltung, nicht einfach machen und irgendwie richtig finden sondern wissen, was man tut, warum, und wer das schon mal anders gemacht hat. Und welche Grenzen noch zu überschreiten sind. Von beiden Seiten her.
Gleich neben der quadratmetergroßen Joyce-Abschrift (die ihm den Schrift-Lehrauftrag einbrachte) steht deshalb mittlerweile ein Computer. Und die ersten Versuche mit verschobenen Schriftlinien und frei skalierten Buchstaben laufen schon. Bald will Inger ein eigenes elektronisches Alphabet entwickeln. Um damit Kirschkerne am Fließband per Laser zu bedrucken? Wie Hühnchen mit Mindesthaltbarkeitsdaten? Nein, bloß nicht, die „echte“ Handarbeit dabei gebe dem Kitsch doch erst die Schwere, um möglicherweise Kunst zu sein. Andererseits, wer weiß? Schließlich mußte auch erst ein Ausstellungsbesucher Gereon Inger darauf aufmerksam machen, daß nicht nur sein Wahlspruch einen Ring ergibt (nie ohne iro nie ohne …), sondern auch sein Name. ingereon machte sofort einen kreisrunden Siegel-Stempel daraus. Und fälscht damit jetzt Ingers.